Von Medikamenten, Schädlingsbekämpfung und feierlichen Anlässen

Was uns auch moderne Abfälle über eine Fundstelle verraten können.

Im März dieses Jahres begleitete die Kommunalarchäologie, vertreten durch Grabungstechnikerin Katharina Kellner M.A., einen Sondageschnitt im Norden eines Grundstücks Auf der Kunterschaft und kontrollierte die Profile nach Entfernung der Kellerwände des abgerissenen Vorgängergebäudes in der südlichen Hälfte des Grundstücks.

Das Plangebiet für die Errichtung eines neuen Wohnhauses liegt nordwestlich der historischen Altstadt Rintelns, unmittelbar an das alte Verteidigungswerk angrenzend. Die östliche Grundstücksgrenze liegt im ehemaligen dem Wassergraben vorgelagerten Wallkörper. Zudem fanden sich 1957 „Auf der Kunterschaft“ Keramikfragmente des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, die auf eine Nutzung des Areals in dieser Zeit schließen lassen. Das Bestandsgebäude im Plangebiet (oder ein Vorgängerbau) ist bereits auf der Preußischen Landesaufnahme verzeichnet, so dass auch mit jünger-neuzeitlichen Funden zu rechnen gewesen ist.

Mehrere modernen Funde, die dabei dokumentiert wurden, geben Aufschluss über mögliche Bewohnerinnen des Vorgängergebäudes aus dem späten 19./frühen 20. Jh.:

Der südliche Rand der Sondage schnitt eine modern erscheinende Grube voll entsorgtem Hausrat. Dieser Bestand aus Schlachtabfällen, gut erkennbar an geraden scharfen Schnittflächen, Metall, Glasfläschchen, zerbrochenen Resten von Porzellan- bzw. Steingutgeschirr und aus vereinzelten Kunststoffabfällen, die den verklappten Abfall eindeutig in das frühe 20. Jh. datieren.


Mehrere dieser Funde sollen hier kurz vorgestellt werden.

Abb. 1. Rinteln, Ldkr. Schaumburg. Funde von der Fundstelle Auf der Kunterschaft.


Eine rötliche Kunststoffdose von der sowohl Korpus als auch Deckel erhalten sind, zeigt auf dem Deckel eine dreizeilige Inschrift, die Aufschluss darüber gibt was die Dose einst enthielt (Abbildung 1 links vorne): SEDOBROL/10 Würfel/F: HOFFMANN-LA ROCHE & Co-A.G. BERLIN. Bei den Würfeln namens Sedobrol  der Firma La Roche, die heute vor allem für Kosmetika bekannt ist, handelte es sich um wasserlösliche Würfel auf Natriumbromidbasis, die unter Anderem von durch Epilepsie Betroffenen eingenommen wurden, seit eine Studie  aus der Schweiz von 1912 die Effekte von Brom auf Epilektiker*innen untersucht hatte.
Ein Vergleichsobjekt aus dem Deutschen Kunststoff Museum datiert in den Zeitraum zwischen 1930 und 1950. Dies lässt sich ebenfalls durch online einsehbare Werbetafeln und Beipackzettel bestätigen. Eine französische Werbung (zuletzt eingesehen am 28.03.2025) fasst den Anwendungsspielraum des Medikaments zusammen: als krampflösendes Mittel, Antiepilektikum, Antiemetikum (ein Medikament, das Übelkeit und Brechreiz unterdrücken soll) sowie gegen Angstzustände, Nervosität, Pithiatismus (Disposition zu körperlichen Symptomen, die unter der Wirkung von Suggestion erscheinen oder verschwinden und nicht auf einer organischen Realität beruhen) und Neurasthenie (vermehrte geistige Ermüdbarkeit bzw. Erschöpfung nach geringer körperlicher Anstrengung).
Es liegt also nahe anzunehmen, dass eine oder mehrere Bewohnerinnen des abgerissenen Hauses, die dort in den 1930er bis 1950er Jahren lebten, unter einer dieser Beschwerden litt.
Mehrere kleine Fläschchen ließen ebenfalls auf medikamentöse Inhalte schließen. So etwa eine vollständig erhaltene hellbraune Flasche, in deren Inneren sich noch eingetrocknete Reste einer weißlichen Substanz befinden (Abb. 1 hinten rechts). Die erhabene Inschrift identifiziert den Inhalt als Äther: AETHER/PRO NARCOSI/Schering. Bei dem ursprünglichen Inhalt der Flasche handelte es sich um Narcose-Äther, der in Deutschland erstmals 1847 zur Anwendung kam.
Die Firma Schering verkaufte Äther unter der Marke „pro narcosi“ seit 1894. Da die Flaschen aus dieser Zeit ebenso anders aussahen, wie die glatten Flaschen mit Papieretikett aus der Nachkriegszeit, stammt diese Flasche vermutlich aus der Zeit der Weimarer Republik oder des Nationalsozialismus.
Der Fund mehrerer Objekte aus dem Zusammenhang der Medizin lässt vermuten, dass es sich bei einer Bewohner*in um eine gesundheitlich stark beeinträchtigte Person handelte, oder aber um eine medizinische Fachperson, wofür insbesondere die Anwesenheit der Narkoseätherflasche sprechen könnte.

Auch der rote Kunststoffdeckel eines kleinen Fläschchens gibt Aufschluss über dessen nicht mehr erhaltenen Inhalt (Abbildung 1 vorne rechts): Er zeigt den Namen „Delicia“ innerhalb eines Quadrats mit abgerundeten Ecken vor einem weiteren Quadrat. Während der Name in Anlehnung an das Wort „deliziös“ einen schmackhaften Inhalt vermuten ließe, handelte sich bei dem Produkt um ein Schädlingsvernichtungsmittel, das u.a. gegen Ratten eingesetzt wurde.  Es wurde von der Chemiefabrik Freyberg im sächsischen Delitzsch, von dem offensichtlich der Name hergeleitet wurde, hergestellt. Das Unternehmen, ursprünglich eine 1817 gegründete Apotheke, wandelte sich zu einer Chemiefabrik mit einer Spezialisierung auf die Produktion von Tierarznei-, Ratten- und Mäusebekämpfungs- sowie Pflanzenschutzmitteln und vertrieb seit 1899 unter dem Namen Delicia Artikel zur Schädlingsbekämpfung. 1952 folgte nach der Enteignung des Familienunternehmens in der DDR ein Wechsel zur Produktion und dem Vertrieb von Vorratsschutzmitteln in der BRD unter dem Namen Detia. Nach der Übernahme des international agierenden Wettbewerbers Degesch 1976 stand die Aluminiumphosphid-Produktion im Fokus, woraufhin viele phosphorfremde Degesch-Produkte eingestellt wurden. Dazu zählten auch die Blausäurederivate zur Schädlingsbekämpfung, die von den Nationalsozialisten zum organisierten Massenmord missbraucht wurden, bekannt unter dem Namen Zyklon B.


Abb. 2. Rinteln, Ldkr. Schaumburg. Funde von der Fundstelle Auf der Kunterschaft.

Ein drittes Objekt der jüngeren Vergangenheit wurde am Profil hinter einer der entfernten Kellerwände des Vorgängerbaus gefunden, gelangte also im Zuge der Errichtung des Hauses in den Boden: Es handelt es sich um ein Bruchstück einer Porzellantasse mit Resten silberner Verzierung und eines Spruchs in Frakturschrift (Abb. 2 rechts). Diese lassen sich als „Dem Silberbräutigam“ rekonstruieren.
Dabei handelte es sich um Tassensets, bestehend aus mindestens zwei Tassen mit der obigen Inschrift auf einer und der Inschrift „Der Silberbraut“ auf der anderen Tasse, die mutmaßlich Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts Paaren geschenkt wurde, die ihre silberne Hochzeit, also 25 Ehejahre, feierten.
Auch die Porzellan-, Steingut- und Milchglasbruchstücke aus der Verfüllung eines Leitungsgrabens (Abbildung 2 links), der von Norden nach Süden auf das Vorgängergebäude zulief, lassen sich in die Zeit vom Ende des 19. bis frühen 20. Jhs. einordnen.

Wie häufig in der Archäologie verraten uns diese Funde nicht direkt, wer sie einst nutzte, sie bieten uns jedoch einen kleinen Einblick in das Leben der Menschen, die ihren Abfall im frühen 20. Jahrhundert am Haus Auf der Kunterschaft hinterließen. Laut des Einwohnerbuchs der Stadt Rinteln von 1939 lebte dort ein Katasterobersekretär, möglicherweise mit seiner Familie.

Finder, Fundmelder, Fotos und Text: K. Kellner; Fundverbleib: KASL
Fundnummern: SL 2025/162-8, -20 und -25

Quellen und Referenzen